Kapitel 28
Für Natascha verging die Zeit bis zu ihrem Auftritt in Monaco wie im Fluge. Sie hatte ihr Programm gekonnt und schnell zusammengestellt, erinnerte sie sich doch noch lebhaft daran, welche Klaviermusik sie als 14-jährige gern gehört hatte. Am meisten fürchtete sie sich nicht vor ihrem Auftritt, sondern vor dem Wiedersehen mit Hardenberg. Nach dem Telefongespräch mit ihm war es ihr ein Leichtes gewesen, sich darüber kundig zu machen, wer der Firmenbesitzer der Hardenberg AG war. Es war Stefan Hardenberg selbst. Damals, bei seinem Urlaub in Hamburg, hatte er sie offensichtlich in dem Irrglauben gelassen, dass er nur ein Angestellter dieser Firma war. Warum er das getan hatte, konnte nur er wissen und sie würde ihn gerne in Monaco fragen, warum er falsche Tatsachen vorgetäuscht hatte. Sie hoffte, dass sie den Mut dazu haben würde. Ihre Koffer hatte sie gepackt mit Abendkleid und den entsprechenden Noten. Es brauchte nur noch morgen zu werden.
Sie schlief unruhig in dieser letzten Nacht im Elternhaus. Sehr früh am nächsten Morgen war sie, entgegen aller ihrer sonstigen Gepflogenheiten, schon wach und blieb auch nicht länger liegen. In der Küche war noch niemand. Stine war sonst die erste, aber sie würde erst in einer Stunde erscheinen. Natascha brühte sich einen Nescafé auf und nahm sich ein übriggebliebenes Brötchen vom Vortag, belegte es mit Butter und Käse und setzte sich damit an den Küchentisch. Am liebsten hätte sie beides in ihr Zimmer getragen, aber ihre Mutter sah es nicht gerne, wenn in den Schlafzimmern oder im Wohnzimmer gegessen wurde. Natascha bereute fast ein bisschen, dass sie nicht in ihrer Studentenbude war. Aber dann vergaß sie es wieder. Über ihre Noten gebeugt, bei Kaffee und Brötchen, ging sie die einzelnen Stücke noch einmal in Geiste durch und war ganz erstaunt, als sie Stines Schritte in der Diele hörte. War es schon 6:00 Uhr? Ja, stellte sie überrascht fest. Sie legte die Notenblätter zurück in die Mappe und nahm die alte Stine in den Arm. „Du bist aber wirklich eine Lerche geworden!“ sagte Stine erstaunt, als sie Kaffeetasse und den benutzten Teller auf dem Tisch sah. „Nein, Stine, ich konnte nur nicht mehr schlafen vor Aufregung!“ Die alte Frau nickte verständnisvoll. „Das könnte ich auch nicht, wenn ich fliegen müsste! Bin noch nie geflogen! Du weißt ja schon, ich bin mit meinen beiden Füßen immer auf der Erde geblieben, wo sie auch hingehören!“ Natascha half mit,
den Tisch zu decken und den Tee aufzubrühen. Die Eltern tranken morgens immer Tee, aber auch nachmittags und abends. Natascha war seit der Uni auf Kaffee umgestiegen. Etwas später hörte sie die Eltern in den Fluren miteinander sprechen. Gleich würden sie herunterkommen. Sie begrüßte beide mit einem Kuss und setzte sich zu ihnen an den Esstisch. „Du hast schon gefrühstückt, Kind?“ fragte die Mutter, auf das benutzte Geschirr weisend.
„Aber du hast doch noch Zeit, der Helikopter kommt doch erst gegen 14:00 Uhr!“ Natascha nickte. Wenn sie das Wort Helikopter nur hörte, wurde sie schon nervös. „Ich habe Reisetabletten im Alibertschränkchen oben in meinem Bad. Du kannst sie ruhig nehmen, die sind auf pflanzlicher Basis!“ fügte ihre Mutter hinzu. Natascha schüttelte den Kopf. „Es wird auch schon so gehen, Mutter!“
Manchmal fand sie es ganz schön nervig, dass ihre Mutter für jedes auch noch so kleine Wehwehchen eine Pille hatte. „Entschuldigt mich, ich will noch mal nachsehen, ob ich alles eingepackt habe.“ Sie erhob sich mit einem Lächeln. Oben in ihrem Zimmer verstaute sie die Notenmappe, dann schaute sie zum wiederholten Mal auf ihre Uhr.
Noch etwa eine Stunde! Sie setzte sich vor ihre Spiegelkommode und schaute sich genau an. Wie sah sie aus? Hatte sie sich in dem halben Jahr verändert? Ihre Haare waren kürzer als im letzten Sommer und – sie strich sich über die Wangenknochen – ihr Gesicht musste schmaler geworden sein, denn im Prüfungsstress hatte sie etliche Kilos verloren. Sie wiegte sich in den Hüften. „Aber ich finde mich noch nicht zu mager!“ murmelte sie, „ich finde es besser als vorher.“
Sie setzte sich auf das gemachte Bett. Hier zu Hause war sie ordentlicher als in Hamburg, wo das Bett manchen Tag bis mittags liegen blieb. Sie hatte alles, was sie im Monaco brauchen würde. Jetzt hieß es nur noch warten.