Kapitel 35
Hardenberg war nicht hinter Natascha hergelaufen. Er wusste, es war sinnlos. Missverständnisse über Missverständnisse entstanden zwischen ihnen mit jedem Wort, das er sagte. Er begriff nicht, warum sie weggelaufen war. Vielleicht war sie mit ihrer so sensiblen und impulsiven Art doch nicht die Richtige für ihn. Er hatte sich auf die Kaimauer gesetzt und schaute aufs Meer, als Ratberg ihn anrief und mitteilte, dass Frau Winter nach Hause wolle. Er hatte nur „Ja, ja!“ gemurmelt und das Handy wieder ausgestellt. Er schluckte. Es tat mehr als weh. Erst nach Stunden war er in der Lage, zum Schiff zurückzukehren. Dort herrschte Unruhe. Frau Hardenberg mit Tochter war noch nicht zurückgekommen und weder das Handy seiner Frau noch das seiner Tochter ließ sich anrufen. Es gab seltsamerweise keine Verbindung. Sie waren wohl schon gut zwei Stunden überfällig. Hardenberg ließ sich im Salon in einen Sessel fallen und verlangte einen Kaffee. Er würde selbst hinaus fahren - er wusste ja, wo sie mit Judith hin wollte - und beide einsammeln. Sie hatten bestimmt nur einen Platten oder so. Erst dann, wenn er sie nicht fand, konnte man die Polizei einschalten. Er ließ sich Proviant einpacken und aß noch ein Sandwich-Baguette. Dann fuhr er los.
Vielleicht war das alles ganz gut. Es würde ihn von seinen Gedanken an Natascha ablenken. Bald hatte er die Spitze des Passes erreicht. Aber nirgends fand er eine Spur von Ines‘ Wagen oder Unfallspuren. „Dann hätte uns die Polizei schon längst benachrichtigt!“ beruhigte er sich. Sie würde auf
einem der anderen Berge sein oder in den kleinen Dörfern abseits. Nur, was wollten die beiden Frauen in den Dörfern? Aber Frauen waren ja unergründlich, das hatte ihn ja erst vor ein paar Stunden das Treffen mit Natascha gelehrt. Er legte eine Autokarte ausgebreitet auf den Beifahrersitz, dann fuhr er wieder weiter. Aber auch auf dem nächsten und übernächsten Pass fand er keine Spur. Er stieg oben jeweils am höchsten Punkt aus und fragte in den Kiosken nach, soweit sie geöffnet waren, aber niemand konnte sich an eine ältere Frau mit 14-jähriger Tochter in einem dunkelgrünen Jaguar erinnern. „Wie viele fahren denn am Tag hier durch?“ fragte er den letzten Kioskbesitzer. „Nicht viel! So zehn am Tag ungefähr!“
„Dann kann man ja davon ausgehen, dass sie diesen Berg nicht hochgefahren ist!“
„So würde ich auch denken, Monsieur!“ Nachdenklich setzte er sich wieder in den Wagen und rief Ratberg an, ob die beiden eingetroffen seien. Die ernüchternde Antwort war wieder „nein“. Er legte das Handy beiseite und beschloss, in zwei weitere Dörfer zu fahren. Wenn sie dort auch nicht gewesen waren, oder noch waren, blieb nur eine furchteinflössende Lösung übrig. Er wagte nicht, es sich weiter auszumalen. Stattdessen gab er Gas und fuhr den Berg hinunter. Im ersten Dorf gab es nichts, nur eine Straße. Keinen Laden, kein Cafe, einfach nichts, wo sie hätten sein können.
Ratlos hielt er ein paar Passanten an und schilderte Frau, Tochter und Auto. Doch alle verneinten bedauernd. Im nächsten Dorf war es das gleiche. Hardenbergs Furcht wuchs. Er beschloss zur Yacht zurückzufahren. Vielleicht waren sie in der Zwischenzeit ja schon eingetroffen. Er wagte nicht anzurufen, um diese letzte Hoffnung nicht zu zerstören.